Montag, 16. Juni 2014

Ja, ich hab's getan!

Da sind sie wieder! Überall klettern und ranken sie sich im Garten und klammern sich zwischen meinem schönen Lavendel, an unserer Buchenhecke und am Gitter vom Hasengehege fest: Die Wicken oder korrekterweise Winden genann. Kennen Sie sie? Schön sehen sie zwar aus, aber sie sind unmöglich! Den ganzen Sommer lang kämpfe ich jeweils gegen dieses Beikraut, wie es korrekterweise heute heisst. Unkraut war früher einmal. Alles ändert sich, die Wicke aber bleibt!
Und jedes Mal, wenn ich eine Ausreisse, muss ich an meine Kindheit denken und mich überwinden, es eben doch zu tun, sie auszureissen.
Denn auf jeder der unzähligen und unglaublich langweiligen Sonntagsspaziergänge - es gab ja noch keine Kickboards und die Sonntagsschuhe durften auch nicht schmutzig oder noch schlimmer "abtschiengget" werden - begegnete ich am Wegrand Wicken. Wollte ich sie achtlos abreissen, wurde ich ermahnt: "Das ist eine Regenblume. Wen man eine Regenblume abzwickt oder ausreisst, regnet es." Da mir das immer und immer wieder eingetrichtert wurde und mein Respekt erwachsenen Personen und erst recht natürlich meinen Eltern gegenüber unsagbar gross war, glaubte ich. So fest verankerte sich also die Ermahnung in meinem Gedächtnis, dass ich noch heute jedes Mal beim Jäten daran denken muss. Inzwischen weiss ich zum Glück, dass das nicht stimmt. In meiner Kindheit aber - ich erinnere mich - habe ich da und dort mit grossem schlechten Gewissen eben doch eine gepflückt - schön waren sie eben doch! Und genauso jedes Mal dachte ich mir schuldbewusst: "Und jetzt bin dann ich schuld, dass es regnen wird ..."

Inzwischen bin ich Psychologin geworden und beschäftige mich im Alltag häufig mit Menschen, die gefangen sind in sogenannten negativen, einengenden Glaubenssätzen und Blockaden (andere können eh alles besser als ich, ich habe kein Glück verdient, mein Leben findet auf der Schattenseite statt, ich schaff das nicht ...), in Vorurteilen (Leute mit Burnout sind nur zu faul zum Arbeiten, früher war alles besser, Frauen und Technik, Leute mit ADHS sind kranke Spinner, ...) und in überholten "Volksdogmen" oder Aberglauben (Mütter sind unersetzlich, Männer sind das stärkere Geschlecht, ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet, ...).

Beim Ausreissen von Wicken weiss ich, dass ich keine Chancen habe. Ich müsste sie ausgraben, wirklich die ganze Erde ersetzen oder mit einer gehörigen Chemiebombe dahinter, denn dieses lästige Un- - oh, Entschuldigung, Beikraut - bildet in der Erde einerseits sehr tiefe Wurzeln, andererseits sehr viele fädenartige Verzweigungen. Und aus jeder Restwurzel kann eine neue Pflanze entstehen.

Ist es nicht genauso mit unseren gedanklichen und emotionalen Einschränkungen, die wir freimütig mit uns mittragen? Wir können uns im Kopf zwar sagen, dass sie falsch und überholt und unfair sind aber der Körper reagiert eben doch. Die Blockaden hocken tief verwurzelt in uns fest und nutzen jede Gelegenheit, um sich wieder irgendwo festzuklammern und hochzuklettern - genauso wie meine Regenblumenerinnerung.

Ich habe übrigens gelesen, dass Tagetes ein natürliches Mittel gegen Winden seien. Nun, ich liebe zwar die Farbe Orange, aber Tagetes kommen mir nicht in den Garten! Und wenn ich das so schreibe, so frage ich mich gerade, ob es nicht vielen Menschen genau ergeht im Alltag: Sie sind zwar erschöpft, aber etwas ändern wollen sie trotzdem nicht. Sie sind zwar nahe einem Burnout, aber zu einer Psychologin oder einem Psychiater gehen, das dann doch nicht! Sie sind zwar in unzähligen Konflikten verstrickt, aber lieber weitere Blockaden aufbauen (das Leben war schon immer ungerecht mit mir, mich versteht einfach niemand, ich kann nur mir selbst vertrauen, lösen muss ich es eh selbst ...), als sie anzugehen und aufzulösen.


Ich versichere Ihnen, ein Gespräch mit einer Fachperson ist weit weniger tragisch als Tagetes im Garten zu haben!!! Packen Sie Ihren Mut und vereinbaren Sie einen Termin! Und falls es genau an diesem Tag dann regnen sollte, so bin nicht ich schuld! Ja, ich habe es auch dieses Jahr bereits mehrfach getan und ich kämpfe weiter gegen die Acker- und Zaunwinden in unserem Garten. Ist er nicht unglaublich schön, der Sommer? Übrigens keine Spur von Regenwolke am Himmel! Let's twist again - lieber ich als die Winde!


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